Führung und Moral

Wie können wir komplexe Probleme bewältigen, zu deren Lösung verschiedene Parteien mit unterschiedlichen Interessen und Hintergründen benötigt werden?

Um komplexe Probleme lösen zu können, benötigen wir zunächst die Fähigkeit einer grenzüberschreitenden Wahrnehmung sowie eine persönliche Reife, die es erlaubt, unsere eigenen Schlüsse aus der Wahrnehmung zu ziehen und sie zu vertreten. Ersteres setzt Achtsamkeit und einen Wahrnehmungshorizont voraus, der über das unmittelbare Tätigkeitsfeld hinausreicht. Letzteres setzt voraus, dass wir Prinzipien entwickelt haben, vor deren Hintergrund wir das Wahrgenommene bewerten. Prinzipien sind eine notwendige Bedingung für eigenverantwortliches Handeln, ein Handeln, das jeder vor sich selbst und vor dem Hintergrund des Kantischen Imperativs verantwortet. Sie beugen unreflektiertem, weisungsbezogenem Handeln und opportunistischem Verhalten vor. Sie führen zu Entscheidungen, deren Konsequenzen wir persönlich verantworten im Sinne Heinz von Foersters, der empfahl, Wirkungen zu managen, nicht Absichten. Diese Qualitäten können durch Bildung und durch Führung gefördert werden.

Komplexe Probleme können allerdings oft nicht allein gelöst werden; vielmehr ist dazu das Urteil und der Konsens Vieler erforderlich. Deshalb sind auch der Wille, Vielfalt zuzulassen, und die Fähigkeit zu einem konstruktiven Diskurs notwendige Voraussetzungen für eine wirksame Lösung. Oft blockieren wir uns gedanklich bei der Suche nach wirklich effektiven Lösungsansätzen, weil wir unsere gedanklichen Grenzen zu eng abstecken. Deshalb ist es wichtig, unseren Lösungsraum zu erweitern. Wir müssen die Abgrenzung, die Positionierung und das Gegeneinander ersetzen gegen ein Miteinander, eine gemeinsame Lösungsfindung im Dialog. Das ist gerade wegen der zunehmenden Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Fachgebiete geboten. Wirklich Innovatives, wirklich bahnbrechende Lösungen entstehen oft in den Überschneidungsbereichen zwischen den fachlichen Disziplinen und zwischen den Kulturen. Offenbar brauchen wir verstärkt Menschen, die den Diskurs an diesen Schnittstellen verstehen zu moderieren.

Es ist nicht nur notwendig, dass Führungskräfte über diese Eigenschaften verfügen, sondern insbesondere, dass sie die Entwicklung dieser Fähigkeiten in ihren Organisationen fördern. Diese Führungsaufgabe besteht darin, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer Vielfalt gedeihen und ein konstruktiver Diskurs erfolgen kann. Eigenverantwortliches Handeln und eine Lösungsentwicklung in dynamischen Gefügen setzt voraus, dass Führungskräfte Engagement und die Entwicklung kollektiver Entscheidungsprozesse fördern. Um das Entstehen funktionierender Regelmechanismen nicht zu stören, müssen Führungskräfte lernen, zu vertrauen und nicht unnötig zu intervenieren. Das setzt auch eine gewisse Fehlertoleranz voraus.

Aber das Lösen komplexer Probleme setzt ein vernetztes Denken und Handeln voraus, das sich aus der Organisation selbst speist. Die zunehmende Komplexität wirkt als Treiber für einen Paradigmenwechsel in der Führung. Ich habe für diesen wegbereitenden, fördernden Führungsstil den Begriff „Enzymatisches Management“ geprägt. Wie Enzyme bewirken Führungskräfte, dass etwas geschieht, ohne sich selbst zu involvieren. Zwar sind sie gestaltender Bestandteil des Systems, doch halten sie sich bewusst aus operativen Entscheidungen heraus, weil sie wissen, dass die vernetzte Fachkompetenz selbstbewusster und kommunikativer Menschen vor Ort eine konstruktive Gruppendynamik erzeugt, die in komplexen Situationen zu den besten Entscheidungen führt.

Solche komplexen Phänomene finden sich nicht nur in mikroökonomischen Umfeldern, sondern auch auf globaler Ebene. Der globale Klimawandel, globale Bevölkerungsbewegungen, demographische Verschiebungen, die Risiken der global vernetzten Finanztransaktionen, der globale Wettbewerb um den Zugang zu Ressourcen sind einige Beispiele dafür. Einzelne können keine Lösungen herbeiführen, sondern nur gemeinsame und abgestimmte Anstrengungen. Sollten wir diese Probleme nicht bewältigen können, werden sie Allen Schaden zufügen. Globale Probleme brauchen globale Antworten. Auf den Mikrokosmos der Unternehmenspraxis bezogen heißt das, dass übergreifend gelagerte Problemstellungen auch übergreifend gelöst werden müssen. In jedem Fall erfordert dies einen konstruktiven, lösungsorientierten Dialog zwischen allen Beteiligten, der opportunistisches Verhalten ausschließt. Die Herausforderung besteht darin, eine solche Haltung, die das Wohl des Gesamtsystems fördert, in einer Welt durchzusetzen, die vor allem individuellen, wirtschaftlichen Erfolg belohnt.

Wie erreichen wir moralisch vertretbares, eigenverantwortliches Handeln?

Damit in unserer Gesellschaft, insbesondere in der Wirtschaftspraxis, eigenverantwortliches Handeln ethisch vertretbar ist, empfiehlt sich eine Auseinandersetzung mit den Begriffen Moral und Ethik.

Moralnormen werden nicht wie Gesetze aufgeschrieben und für jeden einer Gemeinschaft für gültig und bindend erklärt. Sie sind ein allgemeines Verhaltensrepertoire, ein Kulturgut, das vom Einzelnen aus der Gesellschaft, in die er eingebunden ist, übernommen und von jedem individuell verarbeitet, angenommen und weiterentwickelt wird.

Aber erst durch ein kritisches Hinterfragen der Moralnormen, durch Reflexion über Moral überprüfen wir Moralnormen auf ihre Übereinstimmung mit unseren eigenen Vorstellungen und entwickeln daraus unsere eigenen Wertvorstellungen. Diesen Reflexions- und Abwägungsprozess bezeichnen wir mit Ethik. Bei der Entwicklung unserer Wertvorstellungen ist wichtig zu wissen, dass wir zwar faktisch oft eingeschränkt, aber im Prinzip frei sind. Nur unter dieser Voraussetzung der prinzipiellen Freiheit, die ja auch die Grundlage unserer Verfassung ist, können wir uns entscheiden, wie weit wir unsere Freiheit freiwillig, aus Überzeugung und vor dem Hintergrund unserer Wertvorstellungen durch Moralen bewusst einschränken möchten.

Gerade bei heterogen zusammengesetzten Beteiligten stellt sich auch die Frage, welchen Moralen gefolgt werden soll. Dabei ist die Erkenntnis wichtig, dass es keine Assimilation auf ein gemeinsames ethisches Modell geben kann. Das lehrt uns der Kulturrelativismus. Allerdings können wir uns durchaus auf gewisse gemeinsame Grundüberzeugungen verständigen, die von allen Beteiligten außer Frage stehen. Damit werden grundlegende Normen vereinbart, die nicht mehr verhandelbar sind. Sie sind nicht etwa das Ergebnis eines Dialogs, sondern die Grundlage für einen Dialog über konkrete Herausforderungen.

Diese Grundlagen sollten nicht mehr diskutiert und nicht relativiert werden. Im Kontext der globalen gesellschaftlichen Probleme sind die unverbrüchlichen Menschenrechte vereinbart worden. Solche Anstrengungen versuchte bereits vor 4.000 Jahren Konfuzius, vor 2.000 Jahren Platon und in unserer Zeit Hans Küng mit seinem Weltethos-Projekt. Solche Grundlagen müssen auch in der Wirtschaftspraxis als Startpunkt für einen Dialog geschaffen werden, um nicht immer wieder zurückzufallen und aus verhandlungstaktischen Gründen grundsätzliche Dinge in Frage zu stellen und neu zu diskutieren.

Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, klare Positionen zu beziehen, die von den jeweiligen individuellen Werten getragen werden. Diese Positionen zeigen weitergehende Überzeugungen der Parteien auf, über die möglichst ein Konsens erzielt werden soll. Die klare Äußerung eigener Prinzipien fördert die bessere Einschätzung und die gegenseitige Verlässlichkeit der Gesprächspartner.

Auf dieser Basis der gemeinsamen Grundwerte einerseits und der weitergehenden Positionen andererseits kann ein konstruktiver, von Toleranz geprägter Dialog erfolgen. Solch ein Dialog ist dann fruchtbar, wenn von den Beteiligten weder eine generelle Verweigerung verfolgt wird noch Maximalforderungen gestellt werden. Andernfalls wird keine Lösung erzielbar sein. Die Toleranz der Gesprächspartner bildet den Verhandlungsspielraum. Je toleranter die Diskursteilnehmer sind, desto größer ist die Lösungswahrscheinlichkeit. Toleranz darf natürlich nicht so weit gehen, dass Intoleranz anderer Gesprächspartner toleriert wird. Auch dadurch würde jeder Versuch einer Annäherung im Keim erstickt. Idealerweise ist die Toleranz aller Beteiligten ähnlich ausgeprägt.

Ein konstruktiver Dialog auf der Grundlage von Prinzipien und Toleranz gleichzeitig ist nicht nur eine „ethische Trockenübung“, sondern schafft praktischen Mehrwert, der sich in besseren Ergebnissen niederschlägt. Ethisch vertretbares Verhalten kann also wirtschaftlichen Wert bringen.

Führungskräften kommt hier im enzymatischen Sinne keine inhaltlich prägende, aber eine die Voraussetzungen schaffende Funktion zu. Darüber hinaus können Führungskräfte sicherlich den Prozess der Wertefindung moderieren. Sie können beispielsweise die Frage stellen, woraus die Mitglieder ihrer Organisation und damit schließlich die Organisation selbst ihre Werte beziehen. Werden die Werte aus dem Umfeld bezogen oder aus einer inneren Selbstreflexion über Moralen?

Ein solcher Wertefindungsprozess muss von innen kommen. Er benötigt Zeit zum Reifen, aber auch Anleitung. Ein Leitbild, das nicht verinnerlicht ist, sollte man sich sparen, weil es wirkungslos bleibt. Wenn aber das Bewusstsein für die eigenen Werte einmal gereift ist, werden Menschen und Organisationen zu verlässlichen Partnern, die keine konkreten Anweisungen brauchen, um zu wissen, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten sollen, sondern grundsätzlich gefestigt sind und sicher mit Situationen umgehen können. So können Führungskräfte entscheidend zur Stabilität der Organisationen beitragen.

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