Die japanische Mentalität

Japan ist ein Inselstaat. Das hat zur Entwicklung einer einzigartigen Mentalität der Japaner beigetragen. Aber auch die Meiji-Reform um 1868, die zur Abschaffung des Sch-gunats führte, schaffte Raum für eine Orientierung Japans nach westlichem Vorbild. Man könnte meinen, dass Japan wegen seiner Insellage kulturell und technologisch isoliert ist, aber das Gegenteil ist der Fall: Gerade wegen der Insellage war und ist Japan immer aufgeschlossen für Impulse, die das Land weiterführen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Japan technologisch, wirtschaftlich und kulturell vor allem durch US-amerikanische Einflüsse geprägt. In der japanischen Tradition fließt alles ineinander: Es gibt keine Trennung zwischen Gut und Böse, keine absolute Gerechtigkeit; vielmehr sind Japaner immer um eine harmonische Koexistenz bemüht.

Japanische Besonderheiten beginnen schon vor der Begrüßung. Es ist nämlich in japanischen Städten gar nicht einfach, eine angegebene Adresse zu finden. Straßennamen gibt es nicht, sondern lediglich Häuserblöcke, die aber nach ihrem Erstellungsdatum, nicht nach ihrer Lage nummeriert sind.

Wenn Sie Ihren Gesprächspartner gefunden haben, folgt die Begrüßung: Statt Hände zu schütteln, verbeugt man sich gegenseitig mit gestrecktem Rücken. Rangniedrigere verbeugen sich tiefer als Ranghöhere. Der Verbeugungswinkel hängt auch vom Anlass ab. Bei neutralen Anlässen reichen kurze, angedeutete Verbeugungen aus, eine 15° Verbeugung drückt besondere Höflichkeit aus; Bitten und formale Entschuldigungen werden mit Verbeugungen von 30° eingeleitet. Auch die Dauer der Verbeugung gilt als eine Respekterweisung. Junge Menschen verbeugen sich vor älteren Menschen, Frauen vor Männern, Schüler vor Lehrern, Verkäufer vor Käufern. Oft verbeugen sich Käufer gar nicht, sondern nicken nur kurz. Der direkte Blickkontakt wird als unhöflich angesehen und deshalb vermieden. Jüngere, international erfahrene Geschäftsleute gehen allerdings zum Händeschütteln über.

Visitenkarten werden mit beiden Händen überreicht, symbolisch betrachtet und dann vor sich sichtbar abgelegt. Stecken Sie Visitenkarten auf keinen Fall in Ihre Jackett-Tasche.

Sowohl die Arbeitsdisziplin als auch die Loyalität der Japaner gegenüber ihren Arbeitgebern ist überdurchschnittlich hoch. Die legendäre lebenslange Betriebszugehörigkeit ist allerdings nicht mehr selbstverständlich. Die hohe Bindung an den Arbeitgeber wird auch durch eine traditionelle Gruppendynamik unterstützt. Viele Unternehmen haben eine Unternehmenshymne, die morgens bei Arbeitsbeginn alle miteinander singen. Japanische Unternehmen, die „Kaisha“, binden ihre Mitarbeiter auch in Entscheidungen stärker ein als mitteleuropäische. Auch das trägt zu einer gemeinsam getragenen Unternehmenskultur und zur Bereitschaft bei, sich stärker für das Unternehmen einzusetzen. Das Unternehmen ist eine Lebensgemeinschaft. Bei allem Einsatz für ihr Unternehmen fühlen sich Japaner immer als Gruppenmitglied, nicht als Individuen. „Selbst“ wird im Japanischen mit „eigener Anteil“ übersetzt und bezieht sich auf die Gemeinschaft. Gerechtigkeit ist der Gemeinschaftswille, und dieser wird von dem Herrscher repräsentiert.

Japaner pflegen einen sehr freundlichen und höflichen Umgang miteinander und mit Ausländern. Sie nehmen in besonderem Maße Rücksicht aufeinander. Das kann darauf zurückgeführt werden, dass Japaner in einer starken Abhängigkeit von der Gemeinschaft leben. Diese Höflichkeit reflektiert sich in einer differenzierten und komplexen Sprache, dem „keigo“, mit dem Japaner je nach hierarchischen Abhängigkeiten variieren können. Mit dem keigo können feine Abstufungen zwischen dem „Sie“ und dem „Du“ angewandt werden, die zu beherrschen für Ausländer schwierig ist. Trotz aller Freundlichkeit wird das Lachen von Japanern im öffentlichen Raum und bei geschäftlichen Gelegenheiten vermieden.

Anders als Mitteleuropäer stellen sich Japaner nicht die Frage nach dem Warum. Anders als Mitteleuropäer kennen Japaner den Kampf um die Wahrheit nicht. Sie akzeptieren die Bedingungen, die sie umgeben; Regeln und Hierarchien und die Form werden ausnahmslos akzeptiert und angewendet. Ihren Lehrern lassen sie eine hohe Ehrerbietung zuteil kommen. „Lernen“ heißt in Japan „Nachahmen“. Das Nachahmen ihrer Lehrer, das Kopieren ihrer Vorbilder hat auch in der Industrie der 1960er Jahre Auswirkungen gezeigt, als europäische und US-amerikanische Produkte, denken wir an Kameras, Unterhaltungselektronik und Autos, einfach kopiert wurden. Für Japaner war es eine Auszeichnung, dass sie ihre Vorbilder so gut nachahmen konnten.

Seit der langen wirtschaftlichen Rezession gibt es in Japan keine selbstverständliche Lebensanstellung mehr. Eigenverantwortung für Lebensentwürfe ist nun gefragt. Konsequent wenden sich immer mehr, insbesondere jüngere Japaner von der japanischen Tradition der Gemeinschaft ab und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Offenbar ist in Japan ein kultureller Wandel eingeleitet.

Japanern ist daran gelegen, das Gesicht ihrer Gesprächspartner zu wahren. Sie legen großen Wert auf das Unausgesprochene und das Ungeschriebene, während das Gesprochene eher an der Oberfläche bleibt. Damit das Unausgesprochene und Ungeschriebene verstanden wird, ist für Japaner die Intensität der Beziehung wichtig. Japaner würden nie offene Kritik üben. Sie würden auch nie eine Bitte klar äußern. Sie würden beides lediglich andeuten, damit ihr Gesprächspartner nicht in die Verlegenheit kommt, die Bitte ggf. ausschlagen zu müssen. Eine Bitte auszuschlagen, geziemt sich auch nicht für einen Japaner; in einer solchen Situation würden Japaner ihre Bedenken eher durch ein Zögern oder durch ein „Ich werde darüber nachdenken“ oder „wenn möglich“ ausdrücken. So pflegen Japaner eine äußerst zuvorkommende Fassade, um in jedem Fall die Harmonie zu wahren. Es ist nicht einfach, den Widerspruch zwischen dem, was Japaner sagen („Tatemae“), und dem, was sie denken („Honne“), zu erkennen. Zu dieser Fassade gehört auch, existente rassistische Abstufungen nie offen zu zeigen. Koreaner gelten in Japan als unterlegene Menschen. Es gibt auch „unreine“ Berufsstände, die „Burakumin“, zu denen Gerber und Totengräber gehören, die in der Gesellschaft zwar erforderlich sind, deren Berufsträger und Nachfahren aber nie in höhere gesellschaftliche Funktionen eintreten können.

Japaner werden von Erdbeben und Tsunamis heimgesucht. Oft sind ganze Städte zerstört worden. Frühe Bauten aus Holz und Papier hielten zwar den Erdbeben besser stand, waren aber anfällig für Brände. Tokyo brannte mehrfach völlig ab. Die Japaner fangen immer wieder von vorn an. Sie haben die Vergänglichkeit als den Gang der Dinge akzeptiert. Der Kreislauf von Zerstörung und Neubeginn ist in der japanischen Tradition zu einem Natur- und Fruchtbarkeitskult geworden. Diese Mentalität überträgt sich auch auf die Geschäftsmentalität der Japaner, die an nichts festhalten und trotz aller Tradition die Veränderung und Möglichkeiten für Verbesserungen im Blick haben. Das Bewusstsein für Vergänglichkeit ist in Japan auch die Quelle für Kreativität.

Japaner helfen gern anderen, lassen sich aber selbst nicht helfen. Die Annahme von Hilfe Dritter würde sie in ihrem Stolz verletzen. Wenn Japaner unterlegen sind, schieben sie die Ursache auf höhere Gewalt, gegen die sie machtlos sind. So können sie ihren Stolz wahren. Japaner gehen immer gestärkt aus Niederlagen hervor.

Die Ritterkaste Japans hat Samurai-Kämpfer mit ihren Bujutsu-Kampfkünsten hervorgebracht. Im Bujutsu geht es um Techniken des Überlebens und des Tötens. Im 12. Jahrhundert n. Chr. begannen der Adel und die Samurai-Kriegsherren, Ninja-Kämpfer auszubilden und als Spione einzusetzen. Die Ninja konnten sich unsichtbar und lautlos bewegen, um möglichst konfliktfrei Aufträge auszuführen.

Nicht-Samurai war es ab dem 17. Jahrhundert in Japan verboten, Waffen zu tragen. Deshalb entwickelten Japaner aus der einfachen Kaste im Untergrund waffenlose Kampfkünste wie Karate, Judo, Jiu-Jitsu, Aikido und Kendo zur Verteidigung weiter, die nicht nur körperliche, sondern auch geistige Fähigkeiten entwickeln. Mit dem gewaltarmen Aikido konnten sogar bewaffnete Samurai mit einem Minimum an eigenem Kraftaufwand überwunden und auf den rechten Weg gebracht werden. Aikido ist wie Jiu-Jitsu eine gewaltarme Kampfkunst. Judo verzichtet ganz auf Angriffe und befasst sich mit Würfen und dem Fallen und Abrollen. Die meisten dieser japanischen Kampfkünste zielen darauf ab, die Kräfte des Gegners für die eigenen Ziele umzuleiten, ohne selbst große Kräfte aufzubringen. Die Kämpfer beobachten ihre Gegner aufmerksam, versuchen mit Empathie, deren Angriffen zuvorzukommen und ihre Kräfte umzulenken. Eine Voraussetzung für den Erfolg im Kampf ist für Japaner, sich voll auf den Moment zu konzentrieren. Dafür müssen sich die Kämpfer von allem geistigen Ballast befreien. „Mu“, die Leere, ermöglicht es den japanischen Kämpfern, sich ganz präsent auf das Geschehen im Kampf zu konzentrieren. Schließlich ist auch der Respekt vor dem Gegner eine Voraussetzung, um vollen Einsatz zu geben und sich nicht zu überschätzen.

Diese Fähigkeiten der gewaltlosen Kämpfe, die seit 1951 in Japan wieder offen betrieben werden, werden in japanischen Universitäten auch für den Einsatz in Verhandlungen gelehrt. Dabei lernen Japaner ihre eigenen Stärken kennen und trainieren ihre Geschicklichkeit, ihre Koordination, ihre Konzentration und ihre Reaktion. Es schadet also nichts, sich mit den japanischen Kampfkünsten zu beschäftigen, wenn Sie mit Japanern verhandeln möchten.

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